Emergenz und Design

Intervention zur 1. DGTF-Tagung
20. Juni 2003

Der Begriff der Emergenz beschreibt das Auftreten von Eigenschaften eines Systems die sich mit einer Betrachtung der Eigenschaften der einzelnen Systembestandteile nicht erklären lassen. Beispiele hierfür wären die Fliessgeschwindigkeit des Straßenverkehrs als die Summe des Verhaltens einzelner Autofahrer, die Qualität von Lehren und Lernen als ein Resultat eines sozio-dynamischen Prozesses oder die Herstellen von Autorität die vielen Entscheidungsträgern, Politikern und Managern zwar per Amt und Rang zugedacht wird letztlich aber nicht eine Eigenschaft der Person, sondern eine Qualität der Interaktion ist.

Selbstorganisation, Bottom-up-Entwicklungsprinzipien, Konnektionismus, Chaostheorie – dies sind Stichworte, die auf die eine oder andere Weise mit emergenz¬theoretischen Fragen in Berührung kommen. Der Begriff wird nicht nur innerhalb wissenschaftlicher bzw. philosophischer Kreise verschieden gedeutet, sondern auch in der (vor allem englischen) Alltagssprache verwendet. Dort jedoch synonym für die wesentlich unspezifischeren Begriffe »Auftauchen«, »Erscheinen« oder »Wachsen«.

Emergenztheorien machen Aussagen über die Welt, nämlich über deren Zustand und deren Entwicklung. Anders gesagt: es gibt einen synchronen und einen diachronen Aspekt.

Der synchrone Aspekt betrifft den Zustand eines Systems. Synchrone Emergenz basiert auf der Annahme, dass ein Ganzes genuin andersartige Eigenschaften als seine Teile haben kann und sich diese auch nicht auf die Teileigenschaften reduzieren lassen. Kochsalz besitzt nicht einfach die Summe der Eigenschaften von Chlor und Natrium; Gehirne denken, aber einzelne Neuronen nicht (usw).

Der diachrone Aspekt beschäftigt sich mit dem Werden der Welt. Im Laufe der Zeit entsteht aus Bestehendem genuin Neuartiges. So werden etwa aus Ursuppe Zellen, aus Zellen Organismen, einige Organismen entwickeln Gruppenverhalten und sogar Bewusstsein. Unter »genuin Neuartigem« sind grundsätzlich qualitative und eher sprunghafte Entwicklungen zu verstehen. Es würde z.B. nicht als »Emergenz« bezeichnet wenn aus »wenig Zellen« »viele Zellen« werden – dies ist lediglich »Wachstum«.

Warum ist es interessant?

Viele Diskurse erkunden die Form einer Abkehr vom Reduktionismus (ein Teil ist wesentlicher als das Ganze):

  • in der Informatik werden selbsterzeugende Algorithmen erforscht (genetic programming),
  • die Management-Theorie geht der Frage nach wie Fehler bei der Organisationsentwicklung z.B. durch zu starke Ausrichtung auf nur wenige Entscheidungsträger aufgehoben werden können,
  • die Kognitionsforschung schließlich versucht zu erklären wie aus biologischen Schaltungen Bewusstsein erwachsen kann.

Viele andere Beispiele könnte man hier aufzählen. Es stellt sich die Frage welche Rolle der Begriff der »Emergenz« im Designzusammenhang haben kann.

Kritik

In der kritischen Diskussion über Emergenztheorien wird auch der Gedanke formuliert, dass es sich um Platzhaltertheorie handeln könnte, die ihre Gültigkeit verlieren wenn durch neue Erkenntnisse ermergente Phänomene reduktionistisch erklärt werden können.

Erscheinen Entwurfsprozesse möglicherweise nur deshalb als »emergent« weil wir deren Zusammensetzung noch nicht erklären können? Eine Kritik am Emergentismus ist, dass sich dieser nicht zum Entwickeln von Problemlösungen eigne. Emergentismus erhebt allerdings nicht den Anspruch eine Theorie der Problemlösung zu sein sondern es handelt sich um ein »klassifikatorisches Unternehmen«.

Emergenztheorien sind zunächst einmal Beschreibungsmodelle und keine Erklärungsmodelle. Emergenz kann also nicht als Teil eines nach wie vor reduktionistischen Verständnisses betrachtet werden.

Charakteristika

Durch Emergenz entstandene Eigenschaften lassen sich (wie gesagt) nicht auf die Eigenschaften der Teile reduzieren. Darüber hinaus sind sie nicht vorhersagbar. Sie müssen zudem eine neue genuine neue Qualität auf einer höheren Ebene darstellen. Diese Eigenschaften höherer Ordnung müssen auf die tieferliegenden Ebenen Einfluß haben (anderefalls wäre der emergente Zusammenhang bedeutungslos).

Was bedeuten diese Merkmale in der Praxis?

Bedingungen für emergente Prozesse

Im Bereich der Organisationsentwicklung zum Beispiel werden Vorrausetzungen formuliert um emergente Prozesse in Unternehmen zu etablieren:

  1. kommunikative Vernetzung
  2. Diversifizierung
  3. hoher Informationsfluß
  4. Abbau von Entwicklungshemmnissen
  5. klare Rahmenbedingungen/Spielregeln
  6. Intention
  7. Antizipation

Designbezug

Niklas Luhmann hat den Begriff emergenter Kommunikation ausführlich dargestellt:
»Ähnlich wie Leben und Bewußtsein ist auch Kommunikation eine emergente Realität, ein Sachverhalt sui generis. Sie kommt zustande durch eine Synthese von drei verschiedenen Selektionen – nämlich Selektion einer Information, Selektion einer Mitteilung dieser Information und selektives Verstehen oder Mißverstehen dieser Mitteilung und ihrer Information.«

Der Entwurfsprozesses ist ein kommunikativer Prozess: der Designer/die Designerin führt einen Dialog mit der Umwelt, dem Kunden, ggf. den Kollegen und Teammitgliedern und natürlich mit sich selbst – ja in gewisser Weise sogar mit dem Gegenstand den er/sie gestaltet. Dieser Prozess wird also mit den Selektionen im Luhmannschen Sinne bestimmt.

Oder nehmen wir den Begriff der »Gebrauchsqualität«. Hinter diesem Begriff verbergen sich das Zusammenspiel unterschiedlichster Aspekte. Entsteht »Gebrauchsqualität« im Entwurf, im Gebrauch oder in beidem? Die »Gebrauchsqualität« erscheint eine emergente Eigenschaft von entwurfsbezogenen Aspekten einerseits und gebrauchsbezogenen Aspekten andererseits zu sein. Es gäbe somit keine Möglichkeit die Gebrauchsqualität im Vorhinein eindeutig zu bestimmen.

Design erscheint somit als eine Tätigkeit, die sich also niemals reduktionistisch erklären lässt. Da aber eine Hinwendung zu holistischen Ideen von »Schöpfungskraft« als Ursache für gutes Design auch nicht sehr verlockend erscheint, kann dem Design vorerst nur eine emergentistische Position zugeordnet werden.